Blütenreiche Hansestadt
Bunte Vielfalt im öffentlichen und privaten Grün. Sehen so Wege aus dem Klimanotstand aus?
Unsere Hansestadt ist schon besonders: einst Königin der Hanse, nun Weltkulturerbe und Klimanotstand-Stadt. Als im Mai 2019 die ersten deutschen Städte den Klimanotstand ausriefen, war Lübeck mit dabei. Nun fallen immer mehr bunte Blühflächen auf, etwa am Gustav-Radbruch-Platz, beim Drägerpark, an der Wesloer Brücke oder in der Beckergrube und am Koberg, dort in bunt bepflanzten Containern. Auch blühende Obstbäume sind im Vormarsch, Bürgermeister Jan Lindenau pflanzte kürzlich den 1500. Hanse-Obst-Baum. Sind diese Anpflanzungen reine Alibi- und Feigenblatt-Inszenierungen? Oder zeigen Blumenrabatten, Blütenpracht, Neuanpflanzungen, teilweise auch bewusster Wildwuchs, Wege aus dem Klimanotstand? „Bei Dir blühe ich auf.“, bewirbt komlimentewerkstatt.de die Aktion am Koberg doppeldeutig und bringt es damit im zweiten Corona-Jahr auf den Punkt: Aufblühen und Aufbruch. Genug der Grautöne und der Schwarzmalerei. Beton aufbrechen und Natur einschalten. Bienen- und klimafreundlich bitteschön! Wir sehnen uns nach der „ideal grünen Stadt“, von der die beiden Lübecker Gartenamtsleiter Erwin Barth und Harry Maasz bereits vor 100 Jahren redeten – und danach handelten.
Klimanotstand zur Chefsache machen
Die Pflanzencontainer am Koberg sind zur Attraktion geworden: Touristen machen Fotos, Einheimische ebenfalls. Bienen und Wildbienen haben den Ort für sich entdeckt, nachts Nachtfalter und auch Fledermäuse wurden dort schon gesichtet. Ist es so einfach, gegen den Klimanotstand anzugehen? Im Prinzip ja. Jeder entsiegelte Quadratzentimeter zählt, auch jeder Balkonkasten. Um diese Farbenpracht vor dem Heiligen-Geist-Hospital kümmert sich der Chef der beauftragten Gärtnerei Köhler aus der Moislinger Allee jede Woche persönlich. Das hat Erfolg. Den Lübecker Klimanotstand werden wir nur beenden, wenn er zur ständigen Chefsache vieler Entscheidungsträger wird. Die Anzeichen dafür stehen nicht schlecht: Ein Bürgermeister, der sich schon als Sechzehnjähriger für wichtige Belange unserer Stadt engagierte, ein Senatoren-Team, das sich gemeinsam gegen den Klimanotstand stemmt, wenn auch noch zu zaghaft. Alle Parteien sind inzwischen für Pflanzaktionen. Die Travemünder CDU fordert nun erstmals eine Streuobstwiese für den Vorzeige-Stadtteil; dabei braucht dieser zubetonierte Ortsteil am Meer eigentlich mehrere Obstbiotope mit Blühwiesen. Wir müssen viel mutiger werden wie einstmals: Lübeck war die erste europäische Großstadt, die ab 1870 mit der systematischen Bepflanzung von Alleebäumen begann. Dies waren meist Linden, aber auch Obstbäume. Anfang des 19. und 20. Jahrhunderts wurden beispielsweise 3000, dann sogar 5000 Obstbäume per Bürgerschaftsbeschluss gepflanzt. Lübeck war darin Vorreiterin. Und auch die naturnahe Waldnutzung Lübecks ist weltweit zum Vorbild geworden. Warum sollten wir nicht den Notstand überwinden und zur grünen Idealstadt werden?! Was unsere Luftqualität anbelangt, belegt Lübeck aktuell unter den deutschen Städten bereits einen hervorragenden 4. Platz in der allerneusten Rangliste der EU-Umweltagentur. Auch der Bürgerschaft-Beschluss „Essbare Stadt Lübeck“ erweist sich als zielführend; Städte wie Hamburg und Kiel beneiden uns darum.
Gesellschaftlicher Wandel: mehr Natur in die Stadt
Auch wenn der Klimanotstand noch andere Ursachen hat als fehlende Blumen, Bäume und Büsche: Ins öffentliche Grün kommen jedenfalls immer mehr Farbtupfer. Auch auf Schulhöfen wuchern wieder Wildblumen und Staudenbeete, etwa an der Gotthard-Kühl-Schule oder der Grundschule Falkenfeld. „Lübeck immer bienenfreundlicher“, heißt es in einer Pressemitteilung von Björn Peters vom Bereich Stadtgrün und Verkehr: „Eine Langgrasfläche ist somit kein Zeichen mangelnder Pflege, sondern ein Zeichen des Wandels der Gesellschaft mit dem Verlangen nach mehr Natur in der Stadt.“ Die Behörden haben begriffen, nun müssen Privateigentümer folgen. Was Ende der 90-er Jahre als Wildblumen-Initiative engagierter Einzelbürger begann, prägt ein Vierteljahrhundert später mehr und mehr das Stadtbild: hohe Blühstreifen anstelle von kurzgeschorenem Einheitsgrün. Es hat ein erfreuliches Umdenken stattgefunden: Alle Parteien, die Bürgerschaft und die Behörden haben den Ernst der Lage erkannt. Nur die privaten Grundstückseigentümer hinken hinterher: Im Heiweg in Sankt Gertrud sind beispielsweise 30 Vorgärten versiegelt, eigentlich ein klarer Rechtsverstoß. Ein Kavaliersdelikt? Nein! Jedes Stiefmütterchen zählt, Hornveilchen wären besser. Ganz korrekt sind duftende Nachtviolen, die Nachtfalter anziehen und so zur Nahrungsquelle für Fledermäuse werden. Am allerbesten wären, Vorgarten für Vorgarten, variierende Blumen-, Stauden- und Gehölzbepflanzungen, selbst verwilderte Flächen sind wertvoller als akkurate Steinwüsten. Jede versiegelte Fläche heizt auf, lässt Niederschläge nicht versickern, führt Richtung Klimanotstand. Ja, die Auspuffe und Schornsteine produzieren die Abgase und den Feinstaub, aber den Abtransport dieser Klimakiller bewerkstelligen unbebaute Flächen mit Pflanzen. Gegen diese Schottergärten, deren Split oft aus China stammt, regt sich Widerstand: Die Arbeitsgemeinschaft Umweltschutz (AGU) Lübeck plant einen Wettbewerb für insektenfreundliche Vorgärten, in St. Lorenz Nord startet die Aktion „Aus Grau mach Grün!“. Überregional machen Initiativen wie „Rettet den Vorgarten“ und „Gärten des Grauens“ gegen naturverachtende Eigentümer mobil. Diese Klimasünder sollten eine Arreststunde im vorbildlichen Lübecker Schulgarten abbrummen – zwischen Blumenrabatten, Gemüsebeeten der Kaland-Schule und einer Wildblumenwiese. Die Biedermänner der kurzgeschorenen Rasen – gedüngt, vertikutiert, entmoost und wöchentlich per Rasenmäher oder -roboter malträtiert – gleich mit. Trotz des Aufschreis von Fridays for Furure und Students for Sustainability haben viele noch nicht verstanden: Es darf durchgeblüht werden! Im Sinne des Altmeisters der farbenfrohen Staudenrabatten, Karl Förster, und wie es unsere Lübecker Wildblumen-Pionierin Christa Fischer versteht: „Die Blütenpracht beginnt im Frühjahr mit Winterlingen und Blausternen, später die Wegwarten und endet eigentlich nie, denn die winterlichen Trockenstände sind zum Überwintern vieler Tiere lebensnotwendig.“
Einen Königskerzenweg für Lübeck!
Den Tulpenweg hat fast jede Stadt, aber wir brauchen endlich einen Wegwartenplatz und den Königskerzenweg in Lübeck. Als wir noch Königin der Hanse waren, wuchsen diese Wildblumen bereits in unseren Straßen, wie archäologische Ausgrabungen belegen. Auch Obstkerne kamen zutage: „Die Auswertung des Lübschen Steinobstes hat ergeben“, so der Kieler Archäologe Dr. Helmut Kroll, dass hier „in frühstädtischer Zeit ein umfangreicher Obstanbau beginnt.“ Und zur Blütezeit der Hanse war Lübeck sogar Obstmetropole Europas. Daran knüpft der 2016 gegründete Hanse-Obst e.V. an: „Wir haben die Vision von 70 Hektar Obst-Biotopen in und um Lübeck“, sagt Vereinsgründer Heinz Egleder, „wo es nicht nur zur Obstblüte blüht, sondern durch bunte Wiesenkräuter die gesamte Wachstumsperiode.“ Das passiert bereits auf 3,5 Hektar Obst-Fläche am Moislinger Baum: mehr als 200 blühende Pflanzenarten lassen dort 71 Arten von Wildbienen und 13 verschiedene Fledermausarten leben, wie Wissenschaftler dokumentiert haben. Immerhin hat der Verein bereits 30 Obst-Hektar geschaffen und beteiligt sich eifrig an den landesweiten Aktionsprogrammen „BlütenMeer“ und „Blütenbunt. Insektenreich“. Diese Fläche ist jedoch gering im Vergleich zu den 400 Hektar der Lübecker Kleingärten oder den 4000 Hektar vom Stadtwald, den derzeit größten Trümpfen gegen den Lübecker Klimanotstand. Aber in der Summe sind selbst kleine Vorgärten mit ausschlaggebend für unser Stadtklima. Und jeder Landwirt, der Blühstreifen aussät und wieder Kornblumen und Mohnblumen im Getreide wachsen lässt, leistet seinen Beitrag zum Gemeinwohl. Wie auch die „Pflanz Dich glücklich“-Aktion vom Lübecker ePunkt: Bürger, die sich vorher nicht kannten, verschönerten dieses Frühjahr gemeinsam ihre Stadt mit Blumen. Könnte der Königsweg aus der Klimakrise also darin bestehen, dass die Hansestadt durch sehr viele kleine Schritte aufblüht? Blühende Landschaften, bildhafte Vision unseres letzten Kanzlers, werden so Realität.
Berichtverfasser: Dipl.-Soziologe Heinz Egleder (im Hanse-Obst-Vorstand)